Anna Faddoul war als Dozentin am Kinder-College in Koblenz zum 25-jährigen Jubiläum des Kinder-Colleges auf Schloss Burg Namedy in Andernach eingeladen. Ein Tag voller spannender Begegnungen und inspirierender Gespräche – doch auch einer, der zum Nachdenken anregt. Mit diesem Blogbeitrag möchte sie ihr Fazit daraus ziehen.
Ein interessanter Nachmittag ging zu Ende, gefüllt mit Gesprächen, neuen Erkenntnissen und einem ernüchternden Fazit: Hochbegabung wird noch immer zu oft missverstanden, nicht erkannt oder sogar stigmatisiert. Es ist erschreckend, wie wenig Raum in unserem Bildungssystem für Kinder bleibt, die anders denken, schneller lernen und tiefere Fragen stellen.
Hochbegabung – ein oft verzerrtes Bild
Wenn man von Hochbegabung spricht, denken viele an das klassische „Wunderkind“, das mühelos durch die Schule geht, überall Bestnoten schreibt und ohne Probleme durchs Leben kommt. Doch die Realität sieht anders aus. Hochbegabte Kinder sind keine perfekten Überflieger – sie sind vor allem eines: anders. Sie hinterfragen, sind oft sensibler, schneller gelangweilt oder fühlen sich unverstanden. Manche passen sich an und verstecken ihre Fähigkeiten, um nicht aufzufallen. Andere ecken an, weil sie den gängigen Mustern nicht entsprechen. Und leider begegnet ihnen die Gesellschaft oft nicht mit Förderung, sondern mit Skepsis.
Einseitige Inklusion – ein blinder Fleck im Bildungssystem
Inklusion ist in aller Munde, doch meist geht es dabei um Unterstützung für leistungsschwächere Schüler. Was völlig fehlt, ist die Inklusion der besonders Begabten. Während für Kinder mit Lernschwierigkeiten individuelle Förderpläne erstellt werden, müssen hochbegabte Schüler oft „funktionieren“ – oder sich anpassen. Sie bekommen selten maßgeschneiderte Förderung, sondern sitzen in einem Unterricht, der sie unterfordert und demotiviert. Das Ergebnis: Potenzial bleibt ungenutzt, Talente verkümmern und die Schule wird für viele dieser Kinder zum Ort der Frustration statt der Entfaltung.
Ganzheitliche Förderung als Zukunftsmodell
Was wir brauchen, ist ein Bildungssystem, das nicht Gleichförmigkeit, sondern Individualität fördert. Ein System, das nicht nur auf Defizite schaut, sondern Stärken erkennt und entwickelt. Ein Unterricht, der flexible Lernwege ermöglicht, statt alle nach demselben Raster zu bewerten. Hochbegabte Kinder benötigen Herausforderungen, kreative Denkaufgaben und die Möglichkeit, in ihrem Tempo zu lernen – genauso wie andere Schüler Unterstützung brauchen, um ihr volles Potenzial zu entfalten.
Dabei darf jedoch nicht nur die intellektuelle Förderung im Vordergrund stehen. Eine ganzheitliche Förderung muss auch ethische und soziale Kompetenzen einbeziehen. Hochbegabte Kinder denken oft abstrakter und analytischer, wodurch sie für moralische und gesellschaftliche Fragestellungen besonders empfänglich sind. Sie stellen Fragen, die über den Lehrplan hinausgehen, reflektieren über Gerechtigkeit, Verantwortung und gesellschaftliche Zusammenhänge. Doch ohne gezielte Begleitung und Austausch mit Gleichgesinnten können sie sich in diesen Gedanken verlieren oder sich von ihrer Umgebung entfremden.
Deshalb brauchen sie nicht nur kognitive Herausforderungen, sondern auch eine Förderung, die ihre soziale und emotionale Entwicklung unterstützt. Programme für soziale Intelligenz, ethisches Denken und empathische Kommunikation sollten genauso selbstverständlich sein wie mathematische oder sprachliche Förderung. Denn wahre Bildung bedeutet nicht nur Wissen, sondern auch Werte zu vermitteln und Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit zu stärken.
Ein Appell an die Bildungspolitik und Gesellschaft
Wann endlich erleben wir eine Zeit, in der Schule nicht mehr bedeutet, Kinder in ein starres System zu pressen, sondern das Beste in ihnen zum Vorschein zu bringen? Wann hören wir auf, Hochbegabung als „Luxusproblem“ abzutun und beginnen stattdessen, sie als das zu sehen, was sie ist: eine wertvolle Ressource, die es zu fördern gilt?
Es ist an der Zeit, umzudenken. Für ein Bildungssystem, das Vielfalt wirklich lebt. Für eine Schule, die Kinder nicht formt, sondern wachsen lässt – mit Wissen, Werten und sozialer Verantwortung.

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